Gemeinschaftsgetragenes Wirtschaften: Mit dem CSX-Ansatz aus der Nische zur Ernährungswende?
Wirtschaften jenseits der Marktpreise, stattdessen direkte Beziehungen und gegenseitiges Vertrauen: Die Grundprinzipien der Solidarischen Landwirtschaft übertragen einige Akteure inzwischen auch auf andere Bereiche entlang der Wertschöpfungskette. Pilot-Betriebe aus der Milchverarbeitung, dem Back- und Brauwesen arbeiten mit „Beiträgen statt Preisen“, um Kosten zu decken, das wirtschaftliche Risiko zu teilen und Investitionen zu finanzieren. Aus dem englisch für Community Supported Agriculture (CSA), wird CSX – x für jede andere beliebige Branche. Dieses neue unternehmerische Modell bietet Anknüpfungspunkte für bereits bestehende und neue Betriebe. Ein wachsendes CSX-Netzwerk aus Praxis, Beratung und Wissenschaft sind Anzeichen für eine neue Bewegung alternativen Wirtschaftens – die sich auch in Selbstkritik ihrer Nische übt.
Ein Beitrag von Matthias Middendorf, Projektmanager der Schweisfurth Stiftung und privat aktiv im CSX-Netzwerk
Das vielfältig praktizierte Konzept der Solidarischen Landwirtschaft (SoLawi) erfährt eine kontinuierliche Verbreitung: Inzwischen arbeiten über 350 Betriebe in Deutschland nach den Prinzipien der SoLawi. In der direkten, kooperativen Zusammenarbeit von Verbraucher:innen und Erzeuger:innen wird ein vielversprechendes Zukunftsmodell gesehen, das inzwischen auf immer mehr Bereiche im Ernährungssystem ausstrahlt. Der innovative Ansatz wird in der Praxis nun auch in der Lebensmittelverarbeitung wie im Bereich Milch und Käse, im Brauwesen, der Weinerzeugung und der Imkerei angewendet. Auch im Lebensmittelhandwerk, wie solidarischen Bäckereien im Backhaus der Vielfalt in Freiburg oder dem neuen Vesper Stüble in Hannover wird das CSX-Modell in der Praxis erprobt und überzeugt: „Als Gründerin komme ich ohne große finanzielle Rücklagen aus und es ist beruhigend zu wissen, dass mein Einkommen gesichert ist und ich mir einen fairen Stundenlohn zahlen kann. Ich kann meine Brote zu dem Preis weitergeben den sie wirklich wert sind, und Menschen, die nicht so viel Geld auf dem Konto haben, günstiger anbieten“, erklärt Kathrin Schubert, von der solidarischen Bäckerei Vesper Stüble.
Prosument:innen, die die laufenden Kosten finanzieren
Alle diese Unternehmen haben gemeinsam, dass sie nach den Prinzipien einer gemeinschaftsgetragenen Wirtschaft organisiert sind. „Für Anbietende ist die Nachfrage gesichert, bevor die Produktion anläuft. Produkte und Dienstleistungen verlieren dadurch ihren Preis und erhalten ihren Wert zurück. Die gemeinsame Verantwortung im CSX-Sinne kann Menschen auf vielfältige Weise nähren, mit Lebensmitteln, anderen Gütern und Dienstleistungen, aber insbesondere auch mit sozialen Aspekten“, erklärt Marius Rommel. Er forscht an der Universität Siegen zu diesem Unternehmensmodell und ist im CSX-Netzwerk engagiert. Im CSX-Ansatz werden die gesamten laufenden Kosten eines Jahres durch die Beiträge der Mitglieder gedeckt. Im Gegenzug werden die Erzeugnisse unter allen (auf)geteilt. Die Grenzen zwischen Konsum und Produktion verschwimmen. Konsument:innen werden zu Prosument:innen. Noch einen Schritt weiter gehen einige Projekte indem sie gemeinsame Entscheidungsstrukturen, einen solidarischen Ausgleich unter den Mitgliedern oder neue Eigentumsmodelle erproben. Ein paar gemeinschaftsgetragene Betriebe existierten bereits vor dem neu geschaffenen CSX-Begriff im Jahr 2017. Seit einigen Jahren vernetzen sich die Akteure im Feld und haben hierfür 2021 mit einem Verein auch Strukturen für einen professionelleren Austausch, Beratung und voneinander Lernen geschaffen.
Wirtschaften ohne Marktpreise kommt in Bewegung
Potentiale werden auch für etablierte SoLawis gesehen, die weitere Bereiche der Wertschöpfungskette wie zum Beispiel eine gemeinschaftsgetragene Bäckerei oder Imkerei integrieren, oder mit anderen neu entstehenden CSX-Betrieben kooperieren können. Eine übergeordnete Organisationsform kann hier mehrere Betriebe koordinieren, Abholorte für Produkte gemeinsam nutzen und somit vielfältige Schnittmengen bilden. Die Umsetzung einer solidarisch organisierten Getreidemühle ist dagegen bisher noch ein Gedankenspiel vom CSX-Netzwerk auf dem Papier. Wogegen die Vision eines nach CSX-Prinzipien gestalteten neuen Stadtquartiers konkreter wird. In einem Pilotprojekt in München Freiham ist eine Genossenschaft in Planung, die aus einer SoLawi, Mitgliederladen, Gastronomie und weiteren CSX-Betrieben bestehen soll. Wenngleich noch viele Fragen offen sind und in der Praxis erprobt werden müssen – es gibt zahlreiche Beispiele, die zeigen: Es tut sich etwas im Bereich des alternativen Wirtschaftens. Es überrascht daher nicht, dass der Ansatz in der Ernährungsbranche auf wachsende Neugierde und Interesse stößt.
CSX-Netzwerk als Ort und Quelle
Das im Dezember 2018 gegründete CSX-Netzwerk ist dabei sich mit dem Verein weiter zu professionalisieren. Es hat sich zum Ziel gesetzt Ansprechpartner:in für bestehende Akteure, interessierte Neugründer:innen, Verbände, Wirtschaftsförderung, Regionalentwicklung, Politik und die Forschung zu sein. Außerdem sollen künftig breitere Teile der Gesellschaft und entsprechende Multiplikator:innen adressiert werden, um diese Form des Wirtschaftens über die bestehenden Akteure und Netzwerke bekannter zu machen. Dazu veranstaltet das Netzwerk Austauschformate und bietet digitale Kennenlern-Termine für Interessierte an. Die nächsten Termine finden sich hier.
Weiterlesen
Marius Rommel und Mona Knorr im Kritischen Agrarbericht: Wirtschaften ohne Marktpreise? Vom Unternehmensmodell Solidarische Landwirtschaft zu einer gemeinschaftsgetragenen Versorgungsökonomie
Hinschauen
Winzer ohne Weingut – eine ARTE-Dokumentation über Jan-Philipp Bleeke und die CSVino
Headerbild: © Marie-Pascale Gafinen. Mit freundlicher Genehmigung von Marie-Pascale Gafinen zur Nutzung. Original unter: https://theory-u.de/termine-gaia/
Weichen stellen für eine sozial-ökologische Transformation
Sozial, wirtschaftlich und ökologisch ist die aktuelle Situation unumstritten eine Herausforderung für die ganze Gesellschaft. Gleichzeitig ist sie eine Chance, die Weichen neu zu stellen. Umfangreiche Subventionsprogramme werden geschaffen, um die Wirtschaft anzukurbeln und die negativen Folgen der Pandemie abzufedern. Die unterschiedlichen Lobbygruppen stehen bereit: mit Vorschlägen, Empfehlungen und Forderungen an die Bundesregierung. „Jede Krise ist auch eine Chance für Veränderungen“, so Vorstand Dr. Niels Kohlschütter. „Wir, die Schweisfurth Stiftung, sehen uns als Brückenbauerin zwischen Zivilgesellschaft, Wirtschaft und Politik für eine sozial-ökologische Transformation.“
Forderungen an die Regierungen
Die Schweisfurth Stiftung fordert mit vielen anderen zusammen eine Transformation und ist selbst Mitzeichnerin des Papiers „Die EU zukunftsfähig machen: Forderungen der deutschen Umweltverbände an die Ratspräsidentschaft“ des DNR. Das Konjunkturprogramm der Koalitionsgipfels ist ein erster Schritt in die richtige Richtung – nun kommt es auf die Umsetzung an.
Um einen kleinen Eindruck zu bekommen, welche Möglichkeiten es aktuell zum Mitmachen gibt und wo etwas passiert: hier ein Ausschnitt der aktuellen Forderungen und Petitionen rund um die Nachhaltigkeit.
Rat für nachhaltige Entwicklung und World Future Council: Für eine zukunftsfähige Wirtschaft und Gesellschaft
„Kein frisches Geld für alte Ideen“ fordert Dr. Werner Schnappauf, Vorsitzender des Rats für nachhaltige Entwicklung. Acht Empfehlungen hat der Rat dem Chef des Bundeskanzleramts und Bundesminister für besondere Aufgaben Prof. Helge Braun vorgestellt. Denn die Krise müsse als Chance zur Transformation in eine nachhaltige Wirtschaft und Gesellschaft gesehen und genutzt werden. Auch der World Future Council fordert in einem Brief die Staats- und Regierungschefs auf: „build back better“ – für einen „besseren Wiederaufbau“ – und drängt auf den Aufbau einer international wirksamen Organisation, die gemeinsames Handeln und „Verantwortung im Interesse heutiger und künftiger Generationen“ gewährleisten kann (Hier geht es zur deutschen Zusammenfassung des Briefes.) Mitzeichner sind u.a. Prof. Dr. Maja Göpel (Generalsekretärin des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen), Prof. Vandana Shiva (Aktivistin), Prof. Ernst Ulrich von Weizsäcker (Umweltwissenschaftler) sowie Vorstandsvorsitzender der Schweisfurth Stiftung Prof. Franz-Theo Gottwald.
Die Transformateure & Greenpeace: Leitlinie, grüner Wirtschaftsplan und mehr
Eine weltoffene und sozial-ökologische Transformation als Leitlinie für Investitionsprogramme für eine lebenswerte Zukunft fordern die Transformateure. Zu ihnen gehören u.a. Prof. Dr. Irmi Seidl, (WSL Zürich) und Prof. Dr. Hubert Weiger (RNE, BUND Bayern). Sie schlagen ein Programm vor, das auf „Verstetigung“ angelegt ist, da es in der Vergangenheit zwar oft herausragende Einzelprojekte gab, „aber kein konsequentes Umsteuern in Richtung Nachhaltigkeit“. Greenpeace sieht den Wendepunkt für einen grünen Wirtschaftsplan. Ein Brief an die Kanzlerin mit Aufruf zu einem Neustart kann hier unterzeichnet werden.
Neues Wirtschaftswunder: Die „historische Chance“ nutzen
Ein offener Brief an die Bundesregierung ist auf der Website der Allianz Neues Wirtschaftswunder für eine sozial-ökologische Transformation zu finden. Ziel ist es, die „langfristigen Zukunftsherausforderungen jetzt als Zivilgesellschaft“ mitzugestalten: konkret bedeutet dies, die „natürlichen Grenzen unseres Planeten anzuerkennen und endlich in Einklang mit einem zukunftsgerichteten, dem Gemeinwohl dienenden, Wirtschaftssystem zu bringen.“ Zu den ErstunterzeichnerInnen des Briefs gehören die Organisationen B.A.U.M., DNR, Forum nachhaltiges Wirtschaften, Gemeinwohlökonomie, GLS Bank, Unternehmensgrün u.v.m.