Kuhgebundene Kälberaufzucht – die Versorgung der Kälber den Profis überlassen!
Dieser Beitrag von Saro Ratter (Projektmanager der Schweisfurth Stiftung) ist im Original in „Der Almbauer“ im Mai 2022 erschienen.
Milchviehkälber werden heutzutage in der Regel kurz nach der Kalbung von der Kuh getrennt und die meisten Kälber möglichst früh verkauft. Mit dieser gängigen Praxis ist ein Ausleben von artgerechtem Verhalten wie Saugen am Euter und Ablecken des Kalbes durch die Kuh nicht möglich. Diese Aufzuchtmethode ist mit tierethischen Problemen verbunden und entspricht nicht den Erwartungen der Verbraucherschaft. Die wachsende Sensibilität der Konsumenten für Fragen des Tierwohls verstärkt die Suche von Praktikern und Wissenschaftlern nach möglichen Alternativen zur gängigen Eimertränke von Milchviehkälbern. Immer mehr Milchviehbetriebe stoßen bei ihrer Suche auf die kuhgebundene Aufzucht und vertrauen auf die Mütter- oder Ammenkühe als die wahren „Profis“ in der Kälberversorgung.
Hintergrund
Die Spezialisierung der Milchproduktion in der konventionellen und ökologischen Landwirtschaft ist mit der Erzeugung ‚überschüssiger‘ Kälber verbunden. Im Alter von nur zwei bis fünf Wochen
verlassen die Kälber die regionale (Bio-) Wertschöpfungskette und werden nach Norddeutschland oder ins Ausland transportiert und dort gemästet. Die so im Übermaß erzeugten Kälber erfahren weder einen ethischen Wert noch einen ökonomischen Nutzen für die Milchviehhalter. Lösungsansätze sind beispielsweise verschiedene Formen der kuhgebundenen Kälberaufzucht, die von innovativen Milchbauern in den letzten Jahren entwickelt wurden. Die kuhgebundene Aufzucht von Milchviehkälbern bedeutet, dass die Kälber von der eigenen Mutter oder einer Ammenkuh gesäugt werden und täglich Kontakt mit erwachsenen Kühen haben. Studien zeigen, dass sich dies positiv auf Gesundheit, Entwicklung und Sozialverhalten der Kälber auswirkt. Inzwischen betreiben in Deutschland geschätzt 300 Betriebe eine kuhgebundene Kälberaufzucht mit über 10 000 Muttertieren. Die Vielfalt der entwickelten Lösungen ist dabei riesig und jeder Betrieb ist herausgefordert, die für ihn passenden Elemente auszuwählen und an seine Bedürfnisse anzupassen. Die Hauptunterschiede betreffen die Frage, ob die Kälber nur an ihren Müttern (= muttergebunden) oder von Ammen (= ammengebunden) gesäugt werden. In letzterem Fall können die Kälber sogar während der kuhgebundenen Aufzucht auf einen anderen Betrieb wechseln. Wesentliche Unterschiede gibt es auch bei den Kontaktzeiten von Kalb und Kuh. Das variiert von ständigem Beisammensein bis zu zweimal täglich 20 Minuten vor oder nach den Melkzeiten. Durch die Verkürzung der Kontaktzeiten kann auch die vom Kalb aufgenommene Milchmenge reduziert werden, die je nach Tier in drei Monaten bis zu 1.200 Liter betragen kann. Damit stellt die vom Kalb konsumierte Milch den größten Kostenfaktor dieser Aufzuchtform dar. In den ersten Wochen wird jedoch eine unbegrenzte Milchfütterung der Kälber empfohlen, da damit in der Regel gute Tageszunahmen, robuste Gesundheit und hohe Lebensleistungen von Milchkühen und Masttieren erreicht werden. Man kann diese Tränkemilch als lohnende Investition betrachten.
Vorteile
Die praktizierenden Bäuerinnen und Bauern nennen folgende Vorteile der kuhgebundenen Aufzucht:
- Größere Arbeitszufriedenheit – („Es macht wieder mehr Spaß, mit den Tieren zu arbeiten“)
- Gute (oder bessere) Kälbergesundheit
- Weniger Arbeit mit Tränken, Spülen und der Versorgung kranker Kälber (dafür mehr Arbeit mit Tierbeobachtung und Lösungen finden)
- Die Erfüllung von Kundenerwartungen
- Energie-Einsparung (Klimaschutz), weil keine Tränkemilch zubereitet werden muss.
Trotz dieser Vorteile ist die Methode nicht nur mit Chancen, sondern auch mit Herausforderungen auf vielen Ebenen verbunden. Da wären zunächst der erhöhte Platzbedarf und der Arbeitsaufwand zu nennen, wenn die Kälber länger auf dem Hof bleiben. Benötigt wird in den meisten Fällen auch ein zusätzlicher Begegnungsbereich für Kalb und Kuh, da dieser in den meisten Ställen nicht eingeplant wurde. Die Milchinhaltsstoffe können zudem beim zusätzlichen Melken negativ beeinflusst werden und auch das Zurückhalten von Milch im Melkstand kann eine Herausforderung darstellen. Um ein stressarmes Absetzen der Kälber zu ermöglichen, sind geeignete Verfahren anzuwenden. So kann der Trennungsschmerz reduziert und lautstarkes Klagen der Muttertiere und ihrer Kälber minimiert werden. Aber die derzeit größte Herausforderung für die meisten Betriebe dürfte der kostendeckende Absatz der Kälber sein. Um die artgerechte Milchviehhaltung voranzubringen, entwickelt die Schweisfurth Stiftung praxistaugliche Lösungen entlang der Wertschöpfungskette von Milch und Fleisch in ihrem Tierwohlprojekt Kuhgebundene Kälberaufzucht.
Kriterien festgelegt
Derzeit wird die kuhgebundene Kälberaufzucht nur von wenigen Betrieben praktiziert. Bislang gab es auch noch keine klare Definition, was genau darunter zu verstehen ist. Eine Initiative von Bio-Milchbetrieben entwickelte jedoch mit Unterstützung der Schweisfurth Stiftung Kriterien für die kuhgebundene Kälberaufzucht. Dies erfolgte in einem partizipativen Prozess von Landwirt:innen zusammen mit Fachberatung, Öko-Verbänden, Tierschutzorganisationen, Wissenschaft und Handel. Im Februar 2021 konnte die Initiative eine abgestimmte Version mit breiter Unterstützung der Öffentlichkeit vorstellen. Die Kriterien bauen auf den Anforderungen der Bio-Anbauverbände für die Kälberhaltung auf. Daher waren Kriterien wie zum Beispiel das Platzangebot und die Fütterung bereits geregelt und ihre Einhaltung wird in den Bio-Kontrollen geprüft. Verpflichtend sind zum Beispiel Tierwohlkontrollen mit tierbezogenen Parametern (entsprechend der AG-Tierwohl), die im Zuge der jährlichen Bio-Kontrolle durchgeführt werden und ein Wohlergehen von Kälbern und Kühen sicherstellen soll. Als weiteres Kriterium wurde ein Mindestzeitraum der kuhgebundenen Aufzucht von 90 Tagen ab der Geburt auf dem Geburtsbetrieb oder einem Ammenkuhbetrieb festgesetzt.
Weitere Kriterien
Um eine hohe Glaubwürdigkeit bei der Vermarktung der Produkte zu erreichen, wurde festgelegt, dass alle Kälber eines beteiligten Milchviehbetriebes nach diesen Kriterien aufgezogen werden müssen. Nur wenn ein Kalb aus gesundheitlichen Gründen (Kuh oder Kalb) nicht am Euter trinken kann, dürfen für den Bedarfszeitraum alternative Methoden zum Einsatz kommen. Um die
Zusammenarbeit mit Züchtern und Mästern weiterhin zu ermöglichen, gilt zudem die Ausnahmeregelung, dass bis zu 15 % der Kälber als Zucht- oder Masttiere bereits nach vier Wochen den Betrieb verlassen dürfen. Der übernehmende Betrieb muss sich jedoch dazu verpflichten, die Tiere bis zur Schlachtung oder zur Zuchtreife zu behalten. Die Kälber müssen von den eigenen Müttern (muttergebunden) oder von Ammenkühen (ammengebunden) gesäugt werden. Zur Ammenkuhhaltung können Kälber ab der dritten Lebenswoche in einen Ammenkuhbetrieb wechseln, der auch am Kontrollverfahren teilnimmt. Das Kalb muss mindestens zweimal täglich aus dem Euter einer Kuh trinken können und die Möglichkeit zu angemessenem Sozialkontakt haben. Im Stall müssen sich die Kälber in einen geschützten Bereich zurückziehen können. Um den Stress am Ende der Aufzucht zu reduzieren, darf das Abtränken und die Trennung von Kuh und Kalb nicht abrupt erfolgen. Diese müssen durch ein stufenweises Verfahren schonend für Kalb und Kuh durchgeführt werden. Für die Umstellungszeit gilt eine Übergangsregelung von bis zu 24 Monaten. In dieser Zeit dürfen max. 50 % aller auf dem Milchviehbetrieb geborenen Kälber nach vier Wochen kuhgebundener Aufzucht den Milchvieh- oder Ammenkuhbetrieb verlassen. Wichtig war der Initiative, dass die Anforderungen praxistauglich sind, die praktizierenden Betriebe die Kriterien selbst bestimmen und eine hohe Glaubwürdigkeit bei Verbrauchern und Verbraucherinnen erreicht wird. Eine Zertifizierung über die Einhaltung der Kriterien wird als freiwillige Zusatz-Zertifizierung für Verbands-Biobetriebe angeboten. Als Trägerstruktur wurde am 31.3.2021 die Interessengemeinschaft kuhgebundene Kälberaufzucht e.V. gegründet. Stimmberechtigte Vollmitglieder können landwirtschaftliche Betriebe werden, die in ihrer Rinderhaltung die Kriterien der Interessengemeinschaft umsetzen. Das sind derzeit ca. 100 Betriebe. Die IG-kuhgebundene Kälberaufzucht sieht die Möglichkeit durch die klaren und einfachen Regeln einen breit anerkannten Branchenstandard zu etablieren, der von der Kompetenz der Öko-Verbände profitiert und sich durch eine hohe Glaubwürdigkeit im Handel auszeichnet.Kriterien, Satzung und Anträge auf Mitgliedschaft sind hier verfügbar.
Copyright: Schweisfurth Stiftung/merhWERT Öko-Milch+Fleisch
Forschungsprojekt mehrWERT Öko-Milch+Fleisch
Bio-Milch und Bio-Fleisch gehören zusammen! Aktuell werden Milcherzeugung und Fleischerzeugung allerdings in der Regel nicht zusammengedacht. Die Konsequenz: Nur in wenigen Fällen können die männlichen Kälber aus Öko-Milchviehbetrieben im Öko-Sektor gehalten werden. Das Forschungsprojekt mehrWERT Öko-Milch+Fleisch, gefördert vom Bayerischen Staatministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, beschäftigt sich genau mit dieser Problematik. Das Forschungsziel: Lösungsmöglichkeiten zu entwickeln, um Bio-Kälbern auch ein Bio-Leben zu ermöglichen. Durchgeführt wird das dreijährige Forschungsprojekt von der Hochschule Weihenstephan-Triesdorf, der Bayerischen Landesanstalt für Landwirtschaft und der Schweisfurth Stiftung.
Projektziel: Ein Bio-Leben für Bio-Kälber
Das Hauptziel des Forschungsprojektes ist es, Konzepte zu entwickeln, um mehr männliche Kälber aus ökologischer Produktion im Öko-Sektor zu halten sowie Möglichkeiten zur artgemäßen Aufzucht und der Vermarktung von Öko-Rindfleisch aufzuzeigen. Dazu ist das Projekt in drei Teilbereiche gegliedert: Im ersten Bereich liegt der Forschungsschwerpunkt auf der Analyse des Status Quo der Öko-Milchviehkälber und der Identifikation von Verbesserungspotenzialen. Dazu werden Daten von bayerischen Milchviehbetrieben erhoben und ausgewertet. Hauptverantwortlich ist dafür die Hochschule Weihenstephan-Triesdorf. Im zweiten Forschungsbereich liegt der Fokus auf der ökonomischen Einordnung der Verfahren zur kuhgebundenen Kälberaufzucht. Im Rahmen dessen werden bei ca. 30 ausgewählten Betrieben die betriebswirtschaftlichen Auswirkungen der Umstellung auf kuhgebundenen Kälberaufzucht untersucht. Hier übernimmt die Bayerische Landesanstalt für Landwirtschaft die Projektleitung. Der dritte Teilbereich umfasst den modellhaften Aufbau von neuen Wertschöpfungsketten für Milch und Fleisch aus kuhgebundener Kälberaufzucht. Diesen Forschungsschwerpunkt verantwortet die Schweisfurth Stiftung und bringt ihrer Erfahrung und Know-how aus dem Forschungsprojekt WertKalb und dem Stiftungsprojekt zur Kuhgebundenen Kälberaufzucht ein.
Projekthintergrund: Bio-Milch und Bio-Fleisch gehören zusammen
Die hohe Spezialisierung der Milchproduktion ist mit der Erzeugung „überschüssiger“ Kälber verbunden: Um Milch geben zu können, müssen Kühe immer wieder kalben. Aber nur wenige Jungtiere werden für die Nachzucht benötigt. Die aktuellen Preise für Kälber decken in der Regel nicht die Kosten, die ein/e Landwirt:in für eine tierwohlgerechte Aufzucht benötigen würde. Ein zentraler Grund dafür ist das starke Missverhältnis der Nachfrage nach Bio-Milch und Bio-Rindfleisch: Bio-Milch und -Milchprodukte sind seitens der Verbraucher:innen stark gefragt, Bio-Rindfleisch hingegen nur sehr wenig. Ulrich Mück, Demeter-Berater in Bayern, hat ausgerechnet, dass je Liter Milch etwa 25 Gramm Rindfleisch entstehen. Das heißt, für ein ausgewogenes Verhältnis von Milch und Fleisch müsste die derzeitige Nachfrage nach Bio-Rindfleisch stark steigen. Die Folge dieses Missverhältnisses: Der überwiegende Anteil der Kälber von Öko-Milchviehbetrieben wird an den konventionellen Viehhandel abgegeben und damit in eine weniger artgerechte Aufzucht. In der Verbreitung der kuhgebundenen Kälberaufzucht wird, neben der Steigerung des Tierwohls, auch das Potenzial gesehen der Erwartungen der Verbraucher:innen mehr zu entsprechen und damit den Absatz von Bio-Rindfleisch zu steigern und das Verhältnis von Milch und Fleisch wieder in eine bessere Balance zu bringen.
Biofach 2021: Impulse setzen, Wandel gestalten
„Shaping Transformation. Stronger. Together“ – das war das diesjährige Motto der Weltleitmesse Biofach, die in diesem Jahr statt im Nürnberger Messezentrum digital stattfand. Für einen Wandel, hin zu einer zukunftsfähigen Land-und Lebensmittelwirtschaft, engagiert sich die Schweisfurth Stiftung seit ihrer Gründung. Selbstverständlich also, dass sie als Impulsgeberin und Gestalterin einer öko-sozialen Agrarkultur mit einer Vielzahl an Projekten und Themen vertreten war – ein Rückblick:
„Auch in diesem Jahr hat die Biofach gezeigt, dass es viele innovative und vielversprechende Handlungsansätze für die vielfältigen gesellschaftlichen und ökologischen Herausforderungen unserer Zeit gibt. Besonders begeistert hat mich Konstantin Schwemmlein, einer der diesjährigen Gewinner des Forschungspreises BioThesis“, resümiert Dr. Niels Kohlschütter, Vorstand der Schweisfurth Stiftung. Die Auszeichnung wird seit 2014 jährlich von der Schweisfurth Stiftung gemeinsam mit der Lebensbaum Stiftung, der Assoziation ökologischer Lebensmittelhersteller sowie der Biofach für herausragende wissenschaftliche Abschlussarbeiten verliehen, die sich mit der Herstellung, Vermarktung oder Verarbeitung von Bio-Lebensmitteln auseinandersetzen. Konstantin Schwemmlein überzeugte die Jury mit seiner innovativen Idee die Blockchain Technologie[1] mit dem Biomarkt zu verbinden. Das Potenzial: Schaffung einer höheren Transparenz und Rückverfolgbarkeit entlang der gesamten Wertschöpfungskette sowie das Sichtbarmachen sämtlicher produktbezogener Herstellungs- und Transportbedingungen. „Konstantin nimmt sich in seiner Bachelorarbeit einer zentralen Herausforderung an: Wie lässt sich der ökologische und soziale Mehrwert eines Bio-Produktes für Verbraucher:innen erkennbar und erlebbar machen? Mit der Blockchain Technologie hat er hier einen spannenden Ansatz entwickelt“, kommentiert Kohlschütter. Alle Preisträger:innen und Informationen zu den ausgezeichneten Abschlussarbeiten finden Sie hier.
Ökologische Agrarkultur voranbringen
Dass die Schweisfurth Stiftung sich für eine zukunftsfähige Land- und Lebensmittelwirtschaft einsetzt, zeigt sich neben der Förderung des Forschungspreise BioThesis, an den zahlreichen weiteren Vorträgen:
- Saro Ratter, Projektmanager der Schweisfurth Stiftung, stellte gemeinsam mit der Bruderkalb Initiative Hohenlohe, den Demeter Milchbauern Süd w.V. und De Öko Melkburen GmbH Kriterien für kuhgebundene Kälberaufzucht vor. Ausführliche Informationen können der Pressemitteilung entnommen werden.
- Außerdem beteiligte sich Dr. Niels Kohlschütter an der Diskussion des Bündnis für eine engeltaugliche Landwirtschaft über die im September 2020 veröffentlichte Studie Pestizid-Belastung in der Luft und welche konkreten Handlungsschritte jetzt folgen müssen.
- Und auch das Projekt WERTvoll war auf dem Kongress vertreten. Konkret ging es um die Frage, wie Stadt-Land-Partnerschaften durch neue nachhaltige Produkte gestärkt werden können.
Vertreten mit dieser Themenvielfalt bestätigt die Schweisfurth Stiftung einmal mehr ihre Rolle als Impulsgeberin und Gestalterin einer zukunftsfähigen, ökologischen Agrarkultur.
[1] Die Blockchain-Technologie ermöglicht es mithilfe einer dezentralen, von vielen genutzten Datenbank, Daten fälschungssicher zu übermitteln.
Auf dem Foto v.l.n.r.: Dr. Niels Kohlschütter und Saro Ratter, beide Schweisfurth Stiftung
Forschungsprojekt WertKalb: Für mehr Tierwohl in der Milchviehbranche
„Das kurze, kranke Leben der Mastkälber ist nichts als ein Kollateralschaden der modernen Milchproduktion“, so bringt die deutsche Journalistin, Autorin und Kuratorin der Schweisfurth Stiftung Tanja Busse in ihrem Buch „Die Wegwerfkuh“ die aktuelle Situation der Kälber auf den Punkt. Die hohe Spezialisierung der Milchproduktion ist mit der Erzeugung „überschüssiger“ Kälber verbunden. Die aktuellen Preise für Kälber decken i.d.R. nicht die Kosten, die ein/e LandwirtIn für eine tierwohlgerechte Aufzucht benötigen würde. Das bringt LandwirtInnen in eine ökonomisch-ethische Dilemma-Situation. Das Forschungsprojekt WertKalb setzt sich genau mit dieser Problematik auseinander und nimmt die gesamte Wertschöpfungskette der Milchviehhaltung, d.h. von der Tierzüchtung über die Tierhaltung bis hin zur Vermarktung, unter die Lupe. Ziel dabei ist es, Lösungsstrategien zu entwickeln, um der Produktion „überschüssiger“ Kälber und dessen, aus tierethischer Sicht, sehr problematischen Folgen entgegenzuwirken. Insgesamt beteiligen sich 21 Organisationen, u.a. die Schweisfurth Stiftung, an dem Verbundprojekt, das von der Universität Hohenheim geleitet und vom Land Baden-Württemberg finanziell gefördert wird.
Das Projekt WertKalb: Partizipativ und praxisorientiert das Tierwohl der Kälber steigern
In der Vorphase des WertKalb-Projektes wurden in einem partizipativen Prozess gemeinsam mit Bio-LandwirtInnen, VertreterInnen der Bio-Verbände, Erzeuger- und Absatzgemeinschaften sowie weiteren ExpertInnen innovative, wertschöpfende und einem hohen Tierwohl-Standard entsprechende Lösungsstrategien in den Bereichen Tierzüchtung, Tierhaltung und Vermarktung identifiziert. Ein Beispiel hierfür sind die verschiedenen Formen der kuhgebundenen Kälberaufzucht, die von engagierten Milchbäuerinnen und Milchbauern u.a. in Baden-Württemberg in den letzten Jahren entwickelt und in der Praxis erprobt wurden. Ziel der im Juni 2020 gestarteten Hauptphase ist es nun, diese Lösungsansätze hinsichtlich ihres Potenzials zur Steigerung des Tierwohls und für eine flächendeckende Verbreitung zu überprüfen. Die Schweisfurth Stiftung trägt im Verbundprojekt insbesondere im Bereich der kuhgebundenen Kälberaufzucht mit ihrer Erfahrung aus der Organisation von Praxisdialogen und mit ihrem deutschlandweiten Netzwerk zum Projekt bei.
Projekthintergrund: Effizienz und Tierethik – ein Widerspruch
In spezialisierten Milchviehbetrieben werden nicht alle geborenen Kälber benötigt und können daher nicht dort aufgezogen werden. Insbesondere Bullenkälber, aber auch ein Teil ihrer Schwestern werden nicht für die Milchproduktion gebraucht und deshalb im Alter von nur zwei bis fünf Wochen an Mastbetriebe in Norddeutschland oder im Ausland abgegeben. Die tierethischen Probleme dieser Überproduktion sind offensichtlich: Langzeittransporte quer durch Deutschland bzw. Europa sowie die generelle Problematik der Trennung der Kälber von der Mutterkuh direkt nach der Geburt. Diese Problematik ist ein Paradebeispiel für das komplexe Zusammenspiel technologischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Entwicklungen und der Wahrung tierethischer Prinzipien. Das Forschungsprojekt WertKalb untersucht daher gezielt Möglichkeiten, um der Produktion „überschüssiger“ Kälber und dessen, aus tierethischer Sicht, sehr problematischen Folgen entgegenzuwirken.
Ausführliche Informationen zu dem Forschungsprojekt WertKalb finden Sie hier.
Erfahren Sie mehr über das Engagement der Schweisfurth Stiftung im Bereich kuhgebundenen Kälberaufzucht.
Kuhgebundene Kälberaufzucht: Echtes Tierwohl von Anfang an!
In Deutschland werden jedes Jahr fast vier Millionen Kälber geboren. In der Regel werden sie kurz nach der Geburt von der Mutterkuh getrennt, denn die Tränke aus dem Nuckel-Eimer gilt als ökonomisch vorteilhafter als eine Aufzucht durch die Mutterkuh. Ein Ausleben von artgerechtem Verhalten wie Saugen am Euter und Ablecken des Kalbes durch die Kuh ist so nicht möglich.
Es geht auch artgerechter!
Eine tierfreundlichere Alternative zu den heute gängigen Tränke- und Aufzucht-Systemen von Kälbern ist die kuhgebundene Aufzucht. Dies bedeutet, dass die Kälber von der eigenen Mutter oder einer Ammenkuh gesäugt werden und täglich Kontakt mit erwachsenen Kühen haben. Studien zeigen, dass sich dies positiv auf Gesundheit, Entwicklung und Sozialverhalten der Kälber auswirkt. Dabei profitieren – neben den Kälbern – auch die Landwirte: Sie berichten häufig, dass ihnen durch die kuhgebundene Kälberaufzucht die Arbeit mit den Tieren mehr Freude bereitet und die monotone Arbeiten der Eimertränke wegfallen.
Herausforderung für die Praxis
Trotz dieser Vorteile für Mensch und Tier wird die kuhgebundene Aufzucht nur von sehr wenigen Milchviehbetrieben praktiziert. Die Gründe hierfür sind vielfältig: Zum einen sprechen wirtschaftliche Faktoren dagegen. So lange die Preise für Produkte aus dieser Haltungsform die höheren Kosten nicht decken, stellt dies eine Hürde für die Landwirte dar. Zum anderen fehlt es häufig an Wissen bei Praktikern, Fachberatern und Stallbauplanern wie eine kuhgebundene Kälberaufzucht praktisch umgesetzt werden kann.
Es gibt Handlungsbedarf!
Nur eine kuhgebundene Kälberhaltung ist mit den ethischen Grundsätzen der ökologischen Agrarkultur vereinbar. Deshalb setzt sich die Schweisfurth Stiftung aktiv für die Ausbreitung der kuhgebundenen Kälberhaltung ein. Im Rahmen des Projekts „Kuhgebundene Kälberaufzucht“ werden konkreten Lösungen zur Förderung dieser Haltungsform sowie deren Umsetzung in der Praxis erarbeitet. Maßnahmen sind die Organisation von Praxis-Dialogen mit interessierten Akteuren und die Präsentation des Themas auf Veranstaltungen. Auf diese Weise wird der Erfahrungsaustausch und der Wissenstransfer zwischen Milchviehalten, Wissenschaftler und potenziellen Marktpartnern gefördert.
Sie möchten das Projekt unterstützen? Hier finden Sie mehr Infos.
Kuhgebundene Kälberaufzucht: Pioniere zeigen, dass es geht!
Die Kälber wieder bei den Müttern lassen – dafür plädierten die ReferentInnen bei der Veranstaltung „Kuhgebundene Kälberaufzucht: Milch und Fleisch aus besonders tierfreundlicher Haltung“ auf der BIOFACH. Doch wie funktioniert eine kuhgebundene Kälberaufzucht? Und was passiert eigentlich mit den Bullenkälbern? Diese und weitere Fragen wurden von Saro G. Ratter, Projektmanager der Schweisfurth Stiftung, Rolf Holzapfel, Geschäftsführer der Demeter Heumilch Bauern Süd und Beate Reisacher, Projektmanagerin Öko-Modellregion Oberallgäu Kempten diskutiert.
Kuhgebundene Kälberaufzucht: Von Hollywood bis Nürnberg ein wichtiges Thema
„Wir fühlen uns berechtigt, eine Kuh künstlich zu befruchten und ihr Baby zu stehlen, obwohl ihre Angstschreie unüberhörbar sind. Dann nehmen wir ihre Milch, die für ihr Kalb gedacht ist und geben sie in unseren Kaffee und unser Müsli“, klagte Joaquin Phoenix bei seiner Oscar-Rede vergangene Woche die derzeitig gängige Milchviehhaltung an. Das Thema kuhgebundene Kälberaufzucht bekommt zunehmend Aufmerksamkeit. Immer mehr VerbraucherInnen fordern eine artgerechtere Aufzucht in der Milchviehbranche. In der Praxis sei dies aber kein leichtes Unterfangen, erklärte Saro G. Ratter: „Zum einen sprechen wirtschaftliche Faktoren dagegen. So lange die Preise für Produkte aus dieser Haltungsform die höheren Kosten nicht decken, stellt diese einen finanziellen Verlust für die Landwirte dar. Zum anderen fehlt es häufig an Wissen bei Praktikern, Fachberatern und Stallbauplanern wie eine kuhgebundene Kälberaufzucht praktisch umgesetzt werden kann.“ Den LandwirtInnen diese Unsicherheiten zu nehmen – genau das sei das Ziel des Projektes kuhgebundene Kälberaufzucht der Schweisfurth Stiftung. Im Rahmen des Projektes soll der Erfahrungsaustausch, der Wissenstransfer sowie die Vernetzung zwischen MilchviehhalterInnen, WissenschaftlerInnen und MarktpartnerInnen gefördert werden.
Gleiches Recht für Bruder und Schwester
Praktische Erfahrung in Sachen kuhgebundene Kälberaufzucht haben sowohl Beate Reisacher als auch Rolf Holzapfel. Ein besonderes Anliegen, das machten sie auf der Biofach Veranstaltung deutlich, ist den beiden die artgerechte Aufzucht von Bullenkälbern. Diese und auch ein Teil ihrer Schwestern werden nicht für die Milchproduktion gebraucht und oft im Alter von nur zwei bis vier Wochen an Mastbetriebe abgegeben – Milchbauern machen dies häufig nur mit Unbehagen. „Landwirte haben auch die moralische Verantwortung für die Tiere, die den Hof verlassen müssen. Hier müssen tierwohlgerechte und gleichzeitig ökonomisch tragfähige Lösungen gefunden werden“, forderte Rolf Holzapfel. Die größte Herausforderung liege dabei in der Vermarktung: Denn das Fleisch aus einer kuhgebundenen Kälberaufzucht ist teurer und unterscheidet sich in Farbe und Geschmack von Fleisch aus herkömmlicher Aufzucht. „Das grundliegende Problem ist, dass Bio-Milch- und Bio-Fleischproduktion aus Effizienzgründen über die letzten Jahrzehnte hinweg voneinander entkoppelt wurden. Hier müssen wir umdenken“, erklärte Beate Reisacher. Die Vermarktung von Bio-Rindfleisch aus der Milchviehhaltung sollte der Nachfrage nach Bio-Milch entsprechen, damit keine Kälber in die konventionelle Mast gehen müssen. Denn „Bio-Milch und Bio-Fleisch gehören zusammen“ – wie das Motto der Allgäuer Hornochsen erklärt.
Die Diskussion machte deutlich: Die Umsetzung der kuhgebundenen Kälberaufzucht in die Praxis ist machbar, aber die Vermarktung von Milch und Fleisch stellt eine große Herausforderung dar. Doch Leuchtturmprojekte wie das von Rolf Holzapfel zeigen, dass es geht und machen Mut.
Erfahren Sie hier mehr über die Projekte Allgäuer Hornochse, wo bereits einige Mitglieder die kuhgebundene Kälberaufzucht praktizieren und Demeter Heumilch Bauern Süd, wo bereits alle Mitglieder auf diese besonders tierfreundliche Haltung umgestellt haben.
Gemeinsam verantwortlich handeln. Echtes Tierwohl voranbringen!
Informationen zum aktuellen Projekt kuhgebundene Kälberaufzucht
der Schweisfurth Stiftung finden Sie hier.
3.000 Kilogramm – um diese Menge ist laut Milchindustrie Verband die durchschnittliche Jahresmilchleistung einer deutschen Kuh heute im Vergleich zu 1990 gestiegen. Ein Anzeichen dafür, dass es den Kühen gut geht? – Ja, davon sind zumindest einige Branchenvertreter überzeugt: Denn wenn es den Kühen nicht so gut ginge, könnten sie auch nicht so viel Milch geben, argumentieren sie. Für uns ein Trugschluss! Deshalb setzten wir uns für echtes Tierwohl ein! Jede Spende, die unsere Arbeit finanziell unterstützt, ist ein wichtiger Beitrag beispielsweise dafür, dass immer mehr Landwirte eine kuhgebundene Kälberaufzucht praktizieren können.
Doch zunächst ein paar Fakten über gängige Praktiken in der Haltung von Milchvieh: Über 90 Prozent der Milchkühe dürfen ihre Hörner nicht mehr tragen, Kälber werden in der Regel kurz nach der Geburt von der Mutterkuh getrennt, sodass ein Ausleben von artgerechtem Verhalten wie Saugen am Euter und Ablecken des Kalbes durch die Kuh nicht möglich ist, und die Kälbersterblichkeit ist bedenklich hoch – einige Quellen berichten von über zehn Prozent.
Tierwohl beginnt bei der Kälberaufzucht
Tierwohl und artgerechte Haltung von Milchkühen beginnen mit der Kälberversorgung, davon sind wir überzeugt. Eine Alternative zur Trennung von Kuh und Kalb direkt nach der Geburt stellt die kuhgebundene Kälberaufzucht dar. Dies bedeutet, dass die Kälber von der eigenen Mutter oder einer Ammenkuh gesäugt werden und täglich Kontakt mit erwachsenen Kühen haben. Studien zeigen, dass sich dies positiv auf Gesundheit, Entwicklung und Sozialverhalten der Kälber auswirkt. Die tierfreundlichere Kälberaufzucht ist jedoch mit einem höheren finanziellen Aufwand verbunden und wird auch deshalb in der Praxis kaum angewandt. Was zählt mehr im ethisch-ökonomischen Spannungsfeld: Der „Preis“ oder der „Wert“?
Jeder kann einen Unterschied machen
Nur Tierwohl, das bei der Aufzucht beginnt, ist mit den ethischen Grundsätzen der ökologischen Agrarkultur vereinbar. Dabei kann jeder Einzelne einen Beitrag zur Förderung echten Tierwohls leisten, zum Beispiel indem beim wöchentlichen Einkauf auf die Herkunft tierischer Produkte geachtet wird. Eine weitere Möglichkeit ist die Beteiligung an Organisationen, Vereinen und Stiftungen, die sich für das Thema stark machen und grundlegende Veränderungsprozesse anstoßen. So engagiert sich die Schweisfurth Stiftung beispielsweise aktiv für die Ausbreitung der kuhgebundenen Kälberaufzucht. Eine konkrete Projektmaßnahme ist zum Beispiel die Durchführung eines Praxis Dialogs am 08. April 2019, bei dem sich MilchviehhalterInnen, WissenschaftlerInnen und potenzielle MarktpartnerInnen über ihre Erfahrungen austauschen können. Um dieses Projekt weiter voranzubringen, sind wir als gemeinnützige Stiftung auf Spenden angewiesen. Hier finden Sie mehr zum Thema Spenden. Gerne können Sie auch persönlich mit uns Kontakt aufnehmen.